Hassmotivierte Straftaten gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transpersonen (LGBT) befinden sich in Berlin auf einem nie dagewesenen Höchstwert. Der kontinuierliche Anstieg solcher polizeilich registrierter Straftaten gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten setzt sich damit fort.
Wurden im Jahr 2014 noch 81 solcher Fälle gezählt (davon 25 Gewalttaten), stiegen die Zahlen seitdem von Jahr zu Jahr an. Im Jahr 2022 wurden 482 Taten erfasst (davon 148 Gewalttaten), im Jahr 2023 588 Taten (davon 127 Gewalttaten). Mehr erfasste Straftaten können auch auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft sowie auf eine Verbesserung der Erfassung zurückgehen.
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Dies geht aus einer am Mittwoch vorgestellten wissenschaftlichen Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik hervor, die das Forschungsinstitut Camino im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung erstellt hat. Da es sich bei den Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität um eine Eingangsstatistik handelt, beziehen sich die Zahlen nicht auf abgeschlossene Ermittlungsverfahren, sondern auf einen Anfangsverdacht.
Im Jahr 2023 waren mehr als 45 Prozent der angezeigten Delikte Beleidigungen. 21 Prozent waren Körperverletzungen, jeweils rund sieben Prozent Volksverhetzungen und Sachbeschädigungen; rund fünf Prozent waren Bedrohungen. Etwa zwölf Prozent wurden im vergangenen Jahr dem Phänomenbereich „rechts“ zugeordnet, jeweils rund drei Prozent dem Bereichen „religiöse Ideologie“ und „ausländische Ideologie“ und 0,5 Prozent „links“.
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Der vom Senat beauftragte Bericht macht auch Angaben zu den Tatverdächtigen. Zu knapp 47 Prozent der Fälle konnte die Polizei im Jahr 2023 Tatverdächtige ermitteln, bei Gewalttaten zu knapp 41 Prozent. Knapp 88 Prozent der ermittelten Verdächtigen waren männlich, bei Gewalttaten sogar über 92 Prozent. Das Alter verteilt sich auf die gesamte Altersspanne von Minderjährigen bis zu über 60-Jährigen. „Queerfeindliche Hasskriminalität ist keineswegs ein Phänomen der Jugenddelinquenz“, heißt es im Bericht.
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Bemerkenswert sind auch die Angaben zu den Staatsangehörigkeiten der Tatverdächtigen. Im Jahr 2023 hatten 70,1 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit. Für 70,2 Prozent trifft dies auch auf die gesamten Zahlen von 2010 bis 2023 zu. Bei Doppelstaatlern wird lediglich die deutsche Staatsbürgerschaft angegeben. Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg waren zum Stichtag 31. Dezember 2023 75,6 Prozent der in Berlin lebenden Personen deutsche Staatsbürger. Dies bedeutet, dass nicht-deutsche Staatsangehörige bei den hassmotivierten Straftaten gegen Homosexuelle und Transpersonen überrepräsentiert sind.
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Zwischen 2010 und 2023 waren 4,5 Prozent der Tatverdächtigen türkische Staatsbürger. Lediglich 2,8 Prozent der Berliner sind türkische Staatsbürger (Stichtag 31. Dezember 2023). 3,6 Prozent der Verdächtigen waren Syrer, im Vergleich zu 1,3 Prozent in der Berliner Wohnbevölkerung. Überrepräsentiert sind unter anderem auch Polen (2,5 Prozent bei den Tatverdächtigen im Vergleich zu 1,4 Prozent in Berlin), Libanesen (1,5 im Vergleich zu 0,2 Prozent) und Afghanen (1,4 im Vergleich zu 0,6 Prozent).
Die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte Juden, Schwulen und Lesben im November geraten, in bestimmten Vierteln, „in denen mehrheitlich arabischstämmige Menschen wohnen, die auch Sympathien für Terrorgruppen hegen“, aufmerksamer zu sein. Von WELT danach gefragt, kritisierten die Vertreter des Berliner Senats diese Aussage am Mittwoch. „Eine pauschale Aussage, wie sie Frau Slowik getroffen hat, halte ich für falsch“, sagte die Gleichstellungs-Senatorin Cansel Kiziltepe (SPD). „Wir beobachten Hasskriminalität in allen Gruppen, die hier in Berlin vor Ort sind.“ Auf die Überrepräsentation türkischer, syrischer und polnischer Staatsbürger angesprochen, sprach sie erneut von einer „pauschalen Aussage“.
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Der Berliner Queer-Beauftragte Alfonso Pantisano (SPD) bedankte sich für die „Lieblingsfrage“ von WELT und verwies auf die 70 Prozent deutschen Tatverdächtigen – obwohl daraus eine Überrepräsentation Nicht-Deutscher hervorgeht. „Ich träume davon, dass ich irgendwann auch in Marzahn-Hellersdorf Hand in Hand mit meinem Partner laufen kann, ohne angegriffen zu werden“, sagte er.
Pantisano hatte 2023 im WELT-Interview bestritten, dass es unter türkisch- und arabischstämmigen jungen Männern ein besonderes Problem mit Schwulenfeindlichkeit gebe. „Homosexualität gilt nicht nur im Islam als Sünde, sondern mindestens genauso auch in der katholischen Kirche“, sagte er damals. „Es gibt genauso viele Italiener oder Deutsche, die queere Menschen angreifen.“
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Im Oktober dieses Jahres hatte Pantisano seinem ebenfalls offen schwul lebenden Parteifreund Kevin Kühnert scharf widersprochen. Der damalige SPD-Generalsekretär hatte erklärt, dass es „aus muslimisch gelesenen Männergruppen häufiger zu einem homophoben Spruch“ komme. Der Queer-Beauftragte sprach diesbezüglich von einem „ollen Reflex“.
Fast Hälfte der Vorfälle auf der Straße
Studienleiter Albrecht Lüter nannte die Überrepräsentation am Mittwoch eine „sehr marginale Größe“ und führte diese darauf zurück, dass es sich bei vielen Tatorten um internationale Ausgehviertel handle, an denen sich viele Touristen und „Leute, die hier nicht gemeldet sind“ aufhielten. Die Verteilung der Staatsangehörigkeiten der Tatverdächtigen sei „im Prinzip eine Abbildung der Bevölkerungsstruktur in Berlin“, behauptete er.
Aus der Auswertung geht weiter hervor, dass knapp 45 Prozent der Fälle aus dem vergangenen Jahr auf öffentlichen Straßen stattfanden. Knapp 19 Prozent wurden im Internet begangen. Elf Prozent der Fälle fanden in Verkehrsmitteln statt. Die höchste Fallzahl wurde im Ortsteil Schöneberg erfasst. Dort befindet sich der sogenannte Regenbogenkiez mit zahlreichen Bars, Clubs, Treffpunkten und Beratungsstellen der schwul-lesbischen Community. „Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Sichtbarkeit queeren Lebens und gewalttätigen Gegenreaktionen“, sagte Lüter, Leiter der Arbeitsstelle Gewaltprävention bei Camino.
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Teil des Monitoring-Berichts ist auch eine qualitative Schwerpunktstudie zur Diskriminierung von Bisexuellen. Unter Bisexuellen-Feindlichkeit versteht das Forschungsinstitut Camino etwa die Leugnung, „Unsichtbarmachung“, Stigmatisierung und negative Stereotypisierung von Bisexualität. Zu den Stereotypen gehören etwa Vorwürfe der Untreue und Promiskuität sowie des Verbreitens sexuell übertragbarer Krankheiten. Bisexuellen-Feindlichkeit ist auch unter Schwulen und Lesben verbreitet. „Erfahrungen mit Bi-Feindlichkeit führen dazu, dass ein offener und selbstbewusster Umgang mit der eigenen Identität erschwert wird“, heißt es in der Studie. „Coming-outs erfolgen oft spät und sind von komplexen Emotionen und Abwägungen begleitet.“
Senatorin Kiziltepe sagte am Mittwoch: „Ich räume ein, auch ich habe in der Vergangenheit bisexuelle Menschen eher mitgemeint und hatte auch Informationen nachzuholen.“
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.