Offenbach-Opern: Zwischen kahlen Kratern prickelt die Erotik

Zwischen 40 und über hundert Bühnenwerke sind es im Fall Jacques Offenbach geworden. So ganz genau weiß das wohl nicht einmal dessen kritisch-musikwissenschaftlicher Lordsiegelbewahrer Jean-Christophe Keck. Geschrieben, gespielt, vergessen, recycelt – so war das Tempo in der Pariser Unterhaltungsindustrie, wo nichts für die Ewigkeit, und alles für die aktuelle Publikumsverwertbarkeit komponiert wurde. Gerade jedenfalls gab


Zwischen 40 und über hundert Bühnenwerke sind es im Fall Jacques Offenbach geworden. So ganz genau weiß das wohl nicht einmal dessen kritisch-musikwissenschaftlicher Lordsiegelbewahrer Jean-Christophe Keck. Geschrieben, gespielt, vergessen, recycelt – so war das Tempo in der Pariser Unterhaltungsindustrie, wo nichts für die Ewigkeit, und alles für die aktuelle Publikumsverwertbarkeit komponiert wurde. Gerade jedenfalls gab es neuerlich zwei seltene Offenbach-Œuvres in Deutschland zu begutachten: auf die Hälfte geschrumpft und semikonzertant an der Komischen Oper Berlin der Dreiakter „Robinson Crusoé“ von 1867 und am Theater Regensburg „Die Reise auf den Mond“.

Wir können an dieser Stelle leider nur sprachlich schwärmen – vom Bilderzauber dieser vier extraterrestrischen Akte mit 24 Bühnenbildern, 680 Kostümen, zwei Ballettnummern und Auftritten eines echten Dromedars wie Vogel Strauß. Solch gewaltiger Aufwand – ja, es gab sogar ein Ballett der Schneeflocken – wurde in Form einer revuehaften Opera féerie bei der Mond-Uraufführung 1875 betrieben.

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Die reichlich absurde Reise ins All war ein ungeheuer teurer Blockbuster. Und dabei ist die buntscheckige, aber trotzdem gewitzte Partitur in bester Offenbach-Manier doch nur ein Teil der Summe aller einst maßlosen Theaterzaubereien aus Explosionen, Maschinentricks, Menschenmassen und Tanzüberraschungen. Aber auch das besonders in Sachen Operette wie Musical äußerst rührige Theater Regensburg kann sich auf seine ständig wechselnde Ausstattung samt perfekt ineinandergreifender Verwandlungen etwas einbilden.

Zur Liebe bereite Gefilde

Sam Madwar (Bühne & Video) und Susanne Hubrich (Kostüme) haben in elegantem Schwarzweiß-Pseudorealismus auf der mit Drehungen wie Versenkungen arbeitenden Bühne großartig Fantasievolles geleistet. Und so zeigt uns diese satirische Mondkapriole, dass man dort nicht lieben kann und Frauen als Objekte betrachtet werden, die man auf einem Markt weiterverkauft. Doch nach dem Genuss eines Apfels (deshalb gibt es natürlich auch ein „Duo des Pommes“) verlieben sich dennoch, wie einst im Paradies, der irdische Prinz Caprice (bei der Uraufführung gesungen von Offenbachs Maîtresse, jetzt: Patrizia Häusermann) und die Mondmaid Fantasia (Sophie Bareis).

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Zwischen kahlen Kratern prickelt plötzlich Erotik, auch Königin Popotte (Svitlana Slyvia) wird nach dem Genuss von angereichertem Mondwein ganz wuschig. Frech und direkt agiert das zappelige Solopersonal, besonders die verbrummelten, schnell gefährlichen Könige Michael Daub (der irdisch lottrige Regent Zack) und Jonas Atwood (der aufgeblasene Galaxisherrscher Kosmos). Konstantin Igl (Mikroskop) und Narcel Oleniecki (Kaktus) beraten aufgekratzt auf ihrer jeweiligen Umlaufbahn. Henriette Schein (Flamma) in schrägen Roben liefert den komischen Sidekick.

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Der längst in Frankreich eingemeindete Kölner Offenbach hatte sich für sein sofort beliebtes Science-Fiction-Bühnenwerk übrigens bei einem anderen französischen Unterhaltungsgiganten bedient: Jules Verne, dem ebenfalls populären Verfasser spektakulär utopischer Romanfantasien. Und die tanzenden Schneeflocken wurden Mode, am berühmtesten in Peter Tschaikowskys Nussknacker-Ballett. Natürlich werden hier wieder die Monarchen durch den Kakao gezogen, servile Minister, dusselig Liebende ebenfalls.

So tändelt und tänzelt das flott und frivol dahin, moussierend beschwingt von Tom Wood. Regisseur Simon Eichenberger hat zum Glück nicht aktualisiert, sondern belässt die emotional arme Mondgesellschaft in kühler Kleidergestrigkeit, zeigt aber durchaus die abgestorbenen Gefühle von heute. Zum Glück explodiert zum Finale ein Vulkan und befeuert die, die es verdient haben, in zur Liebe bereite Gefilde. Wir sind wieder ganz nah an der geschätzt blauen Erde dran, die doch so schützenswert ist: Offenbach als früher Öko-Vorkämpfer und Klimakatastrophen-Cassandra.

Verloren im Biedermeierkostüm

Der „Robinson Crusoé“, auch hier setzte sich Jacques Offenbach auf eine bekannte Romanvorlage, ist als opéra-comique weniger krachlustig als eher larmoyant, gefühlvoll, dafür enorm raffiniert musikalisiert, mit ausufernden Ensembles. Davon bleibt leider in der 100-minütigen Kurzfassung der Komischen Oper allzu wenig übrig. Die Digest-Trümmer muss die komisch-grotesk bewährte Andreja Schneider, die als Jacques Offenbachs bisher vergessene Schwester (die bis hin zu Backenbart und Glatze) genauso aussieht wie er, als Erzählerin zusammenhalten; was mäßig gelingt: Denn nach launiger Einleitung nimmt Jacqueline Platz und liest aus dem Buche ab.

So sind die Sänger zwar alle aufgetufft in weiträumigen Biedermeierkostümen, aber sonst ganz auf sich gestellt, denn nicht einmal die wüste Insel gibt es: Sparmaßnahmen, ätzt die Offenbachine. Der strahlende Tenor von Augustin Gómez als Robinson hebt sich schnell ab, ebenso der Hosenrollen-Freitag von Virginie Verrez. Miriam Kutrowatz als Robinsons Verlobte, die fast im Kannibalenkochtopf schmort, lässt ihren Koloraturwalzer klirren, und die Knallchargen des Hauses – Tom Erik Lee, Karolina Gumos, Christoph Späth – gefallen als ebensolche. Die Chorsolisten geben der anspruchsvollen Partitur alles. Adrien Perruchon dirigiert mit Schmiss, Schmalz und Schmackes, sodass man unbedingt Lust auf das komplette Stück bekommen hat. Das soll es, dem Verlagsvernehmen nach, immerhin nächste Saison in Paris geben …