Leider zeigen hier nur wenige Menschen Mitgefühl und Trauer

Berlin. Kolumnist Dieter Puhl hat eine Wahlveranstaltung besucht und vermisst ein wichtiges Thema bei allen Parteien. Eigentlich wollte er gerne Rockstar werden, als Sänger und Gitarrist der Rockband „Sleeping Silence“ – „aber irgendwie wollte das kein anderer.“ So hat es Lars Klingbeil neulich in der Sendung „Inas Nacht“ erzählt. Stattdessen kennen wir ihn seit langem


Berlin. Kolumnist Dieter Puhl hat eine Wahlveranstaltung besucht und vermisst ein wichtiges Thema bei allen Parteien.

Eigentlich wollte er gerne Rockstar werden, als Sänger und Gitarrist der Rockband „Sleeping Silence“ – „aber irgendwie wollte das kein anderer.“ So hat es Lars Klingbeil neulich in der Sendung „Inas Nacht“ erzählt. Stattdessen kennen wir ihn seit langem als Bundestagsabgeordneten der SPD, deren Generalsekretär er von 2017 bis 2021 war und der er seit Dezember 2021 gemeinsam mit Saskia Esken vorsteht. Ihm begegneten am vergangenen Montag 130 Gäste im Bürgerbüro unseres ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Michael Müller in der Bleibtreustraße in Charlottenburg.

Herrn Müller mag ich, auf Lars Klingbeil war ich neugierig und es ist Wahlkampf, da wollte ich mich einfach informieren. Viele kennen im Bezirk die Jebensstraße mit den obdachlosen Gästen der Bahnhofsmission Zoo, auch die City Station, ein Restaurant für Menschen, die auf der Straße leben, am oberen Ende des Kurfürstendamms. Uns sind die Zelte derjenigen bekannt, die seit Jahren unter den Brücken am Bahnhof Charlottenburg leben, am Savignyplatz schlafen regelmäßig Obdachlose, seit 30 Jahren auch in einigen Hauseingängen des Kurfürstendamms und selbst in der Bleibtreustraße hat gerade ein Mensch sein kleines Lager aufgeschlagen. Vertraute Bilder! Auch vertrautes Leid?

Wohl eher nicht. Gesellschaft und Politik blenden diese Menschen unverändert überwiegend aus. Als junger Mensch absolvierte Lars Klingbeil übrigens seinen Zivildienst in der Bahnhofsmission Hannover. Sicher hat er dort gelernt, sehr genau hinzuschauen. Leid sitzt einem dort doch jeden Tag gegenüber. Wie es ihm nun mit dem Scheitern der Politik geht, beim Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden? Das war meine Frage an ihn. Herr Klingbeil gestand das ein, zeigte auch Betroffenheit, vielleicht war es sogar Traurigkeit. Er verwies aber auf die Schwierigkeiten der Politik der letzten Jahre.

Seit gefühlt 150 Jahren gibt es Ausreden in Sachen Obdachlosigkeit

Putin, Ukraine, Schwierigkeiten der Industrie, Asylpolitik, Lücken bei der Bildung, die Weltwirtschaft, China, der neue amerikanische Präsident, Ausgaben für die Verteidigung, Zersplitterung des Parteiensystems, fehlende Finanzierung … die „To-do-Liste“ der Politik war und ist groß. Dafür habe ich doch Verständnis, Herr Klingbeil!

Es dann am Montag nicht der geeignete Rahmen, um länger über Obdachlose zu diskutieren. Auch viele andere wollten noch ihre Fragen stellen. Ich möchte mich dennoch für die Ehrlichkeit bedanken. Ich habe nichts gegen Herrn Klingbeil, aber dennoch kam mir sogleich eine Liedzeile des österreichischen Künstlers und Sängers André Heller in den Sinn: „Bitte kumm ma mit kane Ausreden mehr, Ausreden wüll i nümmer hör‘n.“

Seit gefühlt 150 Jahren wurden doch schon 100 Argumente in den Ring geworfen, warum das mit der Obdachlosigkeit nicht anders geht. Und ich befürchte, in zehn Jahren werden es noch ein paar mehr sein.

Kranzniederlegungen und Aufschreie dazu habe ich wohl verpasst

Allein in Hamburg seien allein im letzten Jahr 25 obdachlose Menschen auf der Straße gestorben, das entnahm ich diese Woche der Presse. Leider zeigen hier nur wenige Menschen Mitgefühl und Trauer. Kranzniederlegungen und das Kanzlerwort dazu habe ich wohl verpasst, die Empörungen und Aufschreie auch.

Robert Habeck, Kanzlerkandidat der Grünen, zeigte sich jüngst doch sehr feinfühlig in der Bahnhofsmission Hauptbahnhof in der Begegnung mit Wohnsitzlosen. Das C in der CDU wird leider aktuell auch sehr kleingeschrieben. Auf Herrn Lindner (FDP) baue ich schon gar nicht. Oder habe ich in den neuen Wahlprogrammen der Parteien etwas verpasst?

Wir erinnern uns: Die einstige Sozialsenatorin Elke Breitenbach (damals Linke) machte vor wenigen Jahren sehr engagierte Obdachlosenarbeit in Berlin, alle Pläne zur Überwindung der Obdachlosigkeit liegen vor, Michael Müller unterstützte als Bürgermeister und Finanzsenator Kollatz (SPD) stellte nötige Gelder zur Verfügung. Dabei war damals auch wegen der Pandemie alles schwierig. Ging doch aber. Und natürlich ginge mehr! Nichts für ungut also, Herr Klingbeil.

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