Berlin. In einer Malteser Arztpraxis in Wilmersdorf werden Erwachsene und Kinder behandelt, obwohl sie nicht versichert sind.
5 vor 10, der Stunden-Zeiger der Wanduhr im Behandlungszimmer von Kinderarzt Dr. Hartmut Wollmann steht auf der Hummel, der Minuten-Zeiger auf dem Schwein. Unter der Uhr, deren Zifferblatt Tiere statt Zahlen zeigt, liegt die sechs Monate alte Amari* auf dem Wickeltisch. Ehe sie sich versieht, hat eine Krankenschwester eine Spritze mit sieben verschiedenen Impfstoffen in ihren Oberschenkel gespritzt – Amari verzieht ihr Gesicht und schreit keine Sekunde später aus voller Kehle los. Die Mutter nimmt sie auf den Arm und streicht liebevoll über den Rücken der Kleinen, die sich langsam wieder beruhigt.
Kurz gesagt: Alles wirkt so, wie bei einer gewöhnlichen Vorsorgeuntersuchung – jedenfalls von außen. Eines ist jedoch alles andere als gewöhnlich: Amari hat keine Krankenversicherung – und somit auch keinen regulären Anspruch auf ärztliche Hilfe. Laut Statistischem Bundesamt hatten in Deutschland nach neuesten verfügbaren Zahlen im Jahr 2019 rund 60.000 Menschen keine Krankenversicherung – trotz der Krankenversicherungspflicht, die hierzulande eigentlich gilt.
Was ein Leben ohne Krankenversicherung in Berlin bedeutet: „Da hängt viel mehr dran, als man denkt“
Die Gründe, wieso Menschen nicht versichert sind, seien vielfältig, erklärt Kinderarzt Wollmann: „Ein Teil der Menschen hat einen unklaren Aufenthaltsstatus, andere haben nicht genug Geld, um die Beiträge der Krankenkasse zu zahlen und bei Kindern, die hier geboren wurden, gibt es häufig Probleme mit der Geburtsurkunde.“
So ist es auch bei Amari, deren Untersuchung inzwischen vorbei ist. In einem pink-roten Pulli sitzt sie im Wartezimmer auf dem Schoß ihrer Mutter Nala und greift fröhlich nach deren großen, goldenen Ohrringen. Die gebürtige Kamerunerin erzählt auf Französisch, dass sie für die Geburtsurkunde ihrer Tochter von Amt zu Amt geschickt wurde, den Bürokratie-Wust nicht versteht. Nur: Ohne Geburtsurkunde gibt es in Deutschland keine Krankenversicherung.
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Nala selbst ist nach eigenen Angaben versichert, hofft, dass es bald auch bei ihrer Tochter klappt. „So lange sie keine Krankenversicherung hat, bekommt sie zum Beispiel auch keinen Platz in der Kita. Da hängt viel mehr dran als man denkt. Außerdem ist es ein beunruhigendes Gefühl zu wissen, dass ich mit ihr nicht einfach zum Arzt gehen kann.“
Anonym und kostenlos – In dieser Wilmersdorfer Arztpraxis wird Betroffenen geholfen
Zumindest nicht zu einem gewöhnlichen Arzt – hier in die Arztpraxis der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM) hingegen schon. Denn die 34 Ärztinnen und Ärzte, die sich, wie Hartmut Wollmann, zurzeit in der Praxis engagieren, helfen Betroffenen anonym und kostenlos. Wollmann sagt: „Wir behandeln die Menschen ohne Rücksicht auf Begleitumstände. Es ist egal, warum sie hier sind, wer sie sind und warum sie keine Krankenversicherung haben.“
Bezahlt wird das Angebot überwiegend aus Spenden und zusätzlich mit öffentlichen Mitteln. Berliner helfen e.V., der Verein der Berliner Morgenpost, unterstützt die Praxis mit Geld aus der Weihnachtsaktion „Schöne Bescherung“. Davon würden unter anderem die Impfstoffe gekauft, sagt der Kinderarzt.
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Dr. Hartmut Wollmann hat rund 20 Jahre als angestellter Kinderarzt in einer Klinik und später in einem pharmazeutischen Unternehmen gearbeitet. Seit seinem Ruhestand ist der 73-Jährige ehrenamtlich medizinisch tätig – 2015 zunächst für das Landesamt für Gesundheit und Soziales und seit 2020 in der Malteser Praxis. „Ich möchte meine Zeit und meine Erfahrung nutzen, um weiterhin Sinnvolles zu tun und Menschen in Not zu helfen“, sagt er.
![Der 73-Jährige will im Ruhestand mit seiner Arbeit in der Arztpraxis der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM) in Berlin-Wilmersdorf Gutes tun. Kinderarzt Wollmann](https://img.sparknews.funkemedien.de/407918978/407918978_1736527292_v16_9_1200.jpeg)
Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung – So geht es in der Praxis zu
Während erwachsene Patienten oft erst die Praxis aufsuchten, wenn die Beschwerden unerträglich werden, sei das bei Kindern zum Glück anders; der Großteil seien Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen, so der Mediziner. „Wenn ein Kind ohne Krankenversicherung einen akuten Notfall hat, würde es auch in jedem normalen Krankenhaus nicht weggeschickt werden. Aber alles, was darüber hinausgeht, wie zum Beispiel die Behandlung von chronischen Erkrankungen, bleibt auf der Strecke, deswegen kümmern wir uns darum“.
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An diesem Donnerstag folgt deshalb eine Untersuchung nach der anderen: Routiniert legt Dr. Wollmann den Kindern das Stethoskop auf die Brust, impft, wiegt und misst sie. Ein Neugeborenes fängt währenddessen an zu weinen, windet sich. Dabei quält die junge Mutter noch eine andere Sorge, sie fragt auf Vietnamesisch nach. Eine Dolmetscherin, die sie mitgebracht hat, übersetzt: „Ist es normal, dass ein zwei Wochen altes Kind so schuppige Haut hat?“ Wollmann beruhigt sie: „Es ist alles in Ordnung“, sagt er den beiden Frauen zugewandt.
![Bao auf dem Arm seiner Mutter im Behandlungsraum bei Dr. Wollmann. Malteser Kinder ohne Krankenversicherung Dr.Wollmann](https://img.sparknews.funkemedien.de/407920828/407920828_1736527292_v16_9_1200.jpeg)
Hilfsangebot in Charlottenburg-Wilmersdorf: Hier wurden schon Menschen aus 92 Nationen behandelt
Bei anderen Eltern versucht er, sich mit Zeichensprache zu verständigen, deutet zum Beispiel auf seinen Mund, um zu erfragen, was das Kind zu Essen bekommt. Denn viele der Patientinnen und Patienten sprechen kein Deutsch. Im Wartezimmer unterhalten sich mehrere Mütter angeregt auf Vietnamesisch. Auf einem grünen Plakat hinter ihnen steht auf vietnamesisch und deutsch „Kommen Sie aus Vietnam?“. Auf viele von ihnen trifft das vermutlich zu, denn nach Daten der Malteser kommen 31 Prozent – und damit die größte Gruppe – der Praxis-Besucher aus dem asiatischen Land. Insgesamt wurden in der Praxis schon Menschen aus 92 Nationen behandelt.
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Auch die 23-jährige Mutter des Neugeborenen erzählt mit Hilfe ihrer Dolmetscherin, dass sie aus Vietnam stammt und vor einem Jahr nach Deutschland gekommen ist. „Noch habe ich aber leider keinen Aufenthaltstitel und deshalb keine Krankenversicherung. Das ist wirklich nicht einfach“, sagt die dreifache Mutter betreten. Zumindest für den Moment kann sie die Praxis jedoch mit einem geimpften und gesunden Kind verlassen. Ein gutes Stück Erleichterung für die Feiertage.
*Auf Wunsch der Beteiligten wurden alle Namen der Patienten und ihrer Angehörigen von der Redaktion geändert.